Innere Ferne / Scars
Zeitgenössische komponierte Musik aus dem Libanon und umliegenden Ländern

Der Programmansatz der beiden Konzerte holt zunächst weit aus, um sich dem Thema zeitgenössische Musik aus dem Nahen Osten anzunähern. Die Spannungsfelder, welche die Region belasten - von den Konflikten im Libanon über die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung bis zu der wachsenden Kluft zwischen säkularen und islamistischen Kräften - können nicht ohne Auswirkungen auf das kulturelle Schaffen der arabischen Welt bleiben. Ohne diesen zwei Konzerten eine politische Ausrichtung geben zu wollen, spielte die Frage nach der Identität bei der Programmkonzeption eine wichtige Rolle, die insbesondere bei Künstlern, die vorwiegend im Exil arbeiten, in den Vordergrund rückt. Identität entsteht aus einer Mischung von kollektiver und persönlicher Erinnerung und kultureller Prägung. Sie verliert an Definitionsschärfe, wenn Erinnerung verfällt oder überlagert wird, wenn Abwesenheit durch Exil oder Assimilation in Wahlheimaten die Lebensorientierung bestimmt. Das Gefühl der Zugehörigkeit schwindet, wenn andere Identifikationsmechanismen einsetzen (z.B. die Erfahrung des Exils) oder wenn das eigene Land und die eigene Kultur durch Bürgerkrieg oder die Bedrohung des Terrorismus so zerrüttet sind, dass der "Locus" der Identität sich nicht mehr eindeutig orten lässt.
Jeweils von ganz unterschiedlichen Perspektiven ausgehend befassen sich viele der insgesamt zwölf Stücke der beiden Konzerte am 27. und 28.9. mit diesen Fragen. Bei Iyad Mohammad ist es die Transformation von Erinnerung und Zeit nach den Massakern von Sabra und Shatila im westlichen Beirut, September 1982; bei Samir Odeh-Tamimi ist es ein in Auflösung begriffenes religiöses Sufi-Ritual; bei Mazen Hussein und Karim Haddad ist es der Prozess des Schwindens von Erinnerung; die ägyptische Komponistin Nahla Mattar und die amerikanische Videokünstlerin Joan Karlen erkunden in ihrer gemeinsamen Arbeit ‘SCARS’ musikalische Resonanz als Metapher für Identität, Repräsentation und Erinnerung, mittels maskenartiger Verfremdung; Yoav Pasovsky initiiert Prozesse der schrittweisen Erstarrung und damit abstrakt-Werdung seines Klangmaterials. Den Abschluss der Konzerte bildet die Vertonung einer Kollage aus Texten von Mahmoud Darwish und Paul Celan, zusammengestellt von der Philosophin Shulamit Bruckstein, musikalisch verarbeitet in einem neuen Werk von Saed Haddad im Auftrag von ha’atlier mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung. Die Konzerte werden vom Ensemble United Berlin unter der Leitung von Ferenc Gabor und vom Dresdener ensemble courage unter Mitwirkung des Dirigenten Manuel Nawri und der Sängerin Uta Buchheister gegeben.
Weder sollen die für dieses Programm ausgewählten Komponisten als «Vorzeigeschilder» ihrer jeweiligen nationalen und kulturellen Provenienz geltend gemacht werden, noch möchte die Auswahl der Stücke in ihrer Gesamtheit bewusst politische Paradigmen beschwören. Was jedoch im Rahmen des Themas «der Libanon und die arabische Welt» deutlich hervortritt, ist die Bedeutung sozialer, politischer und kultureller Realitäten bei der Schaffung von und im Umgang mit zeitgenössischer komponierter Konzertmusik. Das Schönbergsche Diktum vom Selbstausdruck als höchstem Streben des Künstlers erhält im Kontext der komponierten Musik arabischer Musiker neue Facetten, auf die es sich lohnt in konzentrierter Form hinzuweisen. Eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung einiger Komponisten und Gesprächspartner aus anderen Disziplinen soll daher eine Plattform bieten, um diesem Aspekt auf diskursiver Ebene nachzugehen und möglicherweise Einsichten in die Zusammenhänge von Identität, künstlerischem Schaffensprozess und dem Bewusstsein kultureller Eigenarten zu eröffnen.  Oliver Schneller

Ensemble united berlin
1989 wurde das ensemble unitedberlin gegründet – Sinnbild der wieder gewonnenen Verbindung von Musik und Musikern in der lange geteilten Stadt. unitedberlin ist nicht nur im musikalischen, sondern auch im internationalen Sinne grenzüberschreitend: Gastkonzerte zu Festivals neuer Musik in Albanien, Brasilien, Israel, Polen, Russland, Spanien, Südkorea, China, Ungarn und in der Schweiz begleiten die Arbeit in Berlin. Das jüngste Konzert fand in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom statt, mit Werken der beiden aktuellen Stipendiaten Anton Safronov und Dieter Dolezel.
Ob Heimspiel oder Gastspiel – das Ensemble präsentiert integrale Aufführungen im Bereich der neuesten Musik sowie der etablierten Ensembleliteratur, von Schönberg und Webern bis zu Nono und Cage. Zahlreiche Konzertprogramme sind in enger Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten entstanden, u.a. mit Vinko Globokar, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Christian Wolff, Toshio Hosokawa, Helmut Lachenmann und György Kurtág. Die Aufführungen wurden von den Komponisten in der Erarbeitung betreut und mit Veranstaltungen wie Vorträgen u. ä. begleitet.
Die Arbeit des Ensembles dokumentiert sich in mehreren CDs, die unter internationaler Beachtung veröffentlicht wurden. Zum Beispiel schrieb The New York Times über eine der letzten CDs von unitedberlin mit Werken von Luigi Nono:”There have been a lot of Nono releases since the composer’s death in 1990. This is one of the best.”

ensemble courage
1997 haben sich unter dem Namen "ensemble courage" auf eine Initiative des Komponisten Benjamin Schweitzer junge hochkarätige Instrumentalisten zusammengeschlossen, um ein innovatives und selbstverwaltetes Ensemble für zeitgenössische Musik in Dresden zu etablieren. Im Jahr 2000 wurde Titus Engel als musikalischer Leiter des Ensembles berufen. In den 10 Jahren seines Bestehens hat das Ensemble zahlreiche Programme mit Werken junger und renommierter Komponisten realisiert mit über 40 Uraufführungen (von Gerhard Stäbler, Chaya Czernowin, Benjamin Schweitzer, Helena Tulve, Michael Hirsch, Sidney Corbett u.a.) und mehr als 30 deutschen Erstaufführungen. Mit dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau verbindet das Ensemble eine kontinuierliche Zusammenarbeit. Regelmäßig gestaltete das Ensemble Konzerte im Rahmen der Reihe "Global Ear". Gastspiele führten das Ensemble zu vielen wichtigen Konzertreihen in Deutschland, wie zu den Magnus-Haus-Konzerten der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung, zu den Weimarer Frühjahrstagen, zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, zu den ARS NOVA Konzerten des Südwestfunks, zum Heidelberger Frühling und Musica Viva München eingeladen. Als Gast des Goethe-Institutes gab das Ensemble Konzerte in Taschkent/Usbekistan, Ljubljana/Slowenien sowie an der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Viele Konzerte des Ensembles wurden vom Rundfunk mitgeschnitten und ausgestrahlt; 2002 erschien die erste CD des Ensembles bei dem Label en avant. Im Frühjahr 2001 erhielt das ensemble courage einen Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung und 2004 den Förderpreis der Landeshauptstadt Dresden.
Der Repertoireschwerpunkt des Ensembles liegt auf Werken junger internationaler Komponisten sowie auf "Klassikern" der Musik des 20. Jahrhunderts. Neben seinen eigenen thematisch oder dramaturgisch durchdachten Kammermusikprogrammen veranstaltet das Ensemble auch Kooperationen mit anderen Formationen, wie dem Londoner Ensemble Apartment House (2005) oder dem Argento Ensemble aus New York (2007). (Künstlerische Leitung des Ensembles: Oliver Schneller und Carsten Gerth)

ensemble sidare
Maqamat  (Plural von Maqam) sind Tonfolgen, die in den verschiedenen Musikformen fast aller nahöstlichen Länder verwendet werden. Je nach Ausgangston drücken sie einen bestimmten Gefühlsgehalt aus. Im Irak bezeichnet das Wort „Maqam“ zusätzlich eine uralte strenge Gesangsform, die durch die Generationen hindurch überliefert wurde.
Bagdad ist die einzige Stadt im Irak, in der diese Musikform gepflegt wurde und wird. Es handelt sich also um eine spezifische Bagdader Musiktradition. Aus diesem Grunde suchte sich die Gruppe den Namen Sidare aus, was soviel bedeutet wie Käppi oder Schiffchenmütze. Sidare ist eine typische Kopfbedeckung, die ausschließlich in Bagdad getragen wird und die die Maqam-Rezitatoren bis heute beim Musizieren tragen.

Saad Thamir wurde in Bagdad geboren. Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums  in den Fächern Klavier und Komposition an der Bagdader Musikhochschule unterrichtete er erst am irakischen Konservatorium und später am Musikinstitut „Klassik“ in Amman (Jordanien). Er gibt zahlreiche Konzerte in der arabischen Welt sowie in Europa und ist Gründer und Leiter der Gruppen „Sidare“, „Lagash“ und „Ahoar“.
Bassem Hawar, geboren in Ur (Irak), beendete 1993 sein Djoze-Studium am Musik-Institut für Irakischen Maqam in Bagdad. Später studierte er Musikwissenschaft an der Bagdader Universität. Seit 2000 lebt er in Europa, wo er als Solist auftritt oder als Mitglied verschiedener Formationen wie „Juri Honington Trio“, „Bagdad Trio“ oder „Lagash“.
Jamil Al-Asadi ist in Bagdad geboren. Er studierte Kanun und arabische Musiktheorie am Institut für Irakische Klassische Musik. Außerdem studierte er westliche klassische Musiktheorie und Violine an der Bagdader Universität. Seit 1996 lebt und arbeitet er in Europa und ist Gründer und Leiter der Gruppe „Muniryat“.
Layt Abdul Ameer wurde in Bagdad geboren. Er studierte 1985 Musik am Institut der Bildenden Kunst Bagdad/Irak mit Ud als Hauptinstrument und Klavier als Nebeninstrument. 1993 ergänzte er seine Studien der Musik an der Musikhochschule der Universität Bagdad. Seit 1999 lebt er in München und ist tätig als Musiker.
Adnaan Shanan wurde in Dikar (Irak) geboren. Er studierte Nai am Institut für irakische Musik in Bagdad, danach an der Akademie der Schönen Künste, wo er später auch Unterricht gab. Er war Solist des Bagdader Fernsehorchesters und hat fast alle bekannten Musiker und Sänger des Mittleren Ostens begleitet. Adnaan Shana ist ein Virtuose auf der Nai und wird besonders geschätzt wegen seiner gefühlvollen, fast romantischen Improvisationen.